SXSW 2019: Austin – das zweite Silicon Valley
Das Paradies von Sonya Coté liegt nur 10 Autominuten östlich von der Partymeile 6th Street und dem Convention Center, dem Herz der SXSW.
Einst war sie Grafikerin bei Whole Foods. Als der Händler aus Austin an die Börse ging, verkaufte sie ihre Mitarbeiteraktien und finanzierte sich so den Jobwechsel zur Köchin und Restaurantbesitzerin. Später dann der Traum in Ost-Austin: eine komplette Farm, auf der sie ihr zweites Restaurant startete, das „Eden East“.

Sonya Coté am Anrichtepass des „Eden East“
Es ist ein magischer Ort. Restaurants mit eigenem Kräutergarten gibt es viele auf der Welt. Doch das hier ist eine kleine Farm, 70% der Ernte verkaufen Coté und ihr Mann an andere Restaurants. Wer hier isst, sitzt in der Scheune oder bei gutem Wetter draußen und genießt eine frische, texanisch geprägte Küche.

Coté hat sich einen Ruf erarbeitet. Die James Beard Foundation, die wichtigste Födererin der Ess- und Kochkultur in den USA, veranstaltet während der SXSW vier Dinner im, besser: auf dem „Eden East“.
An diesem Abend serviert Coté als Fingerfood eine Artischockencreme, serviert auf einem Artischocken-Strunk als Löffel. Letzteren kann man nicht essen, man wirft ihn nach Genuss der Creme einfach über den Zaun in das offene Hühnergehege.

Doch wie lang wird es dieses Paradies noch geben?
Die Fahrt zum „Eden East“ demonstriert, was gerade in Austin passiert. Wackelige Hütten stehen auf staubigen Grundstücken. Wer hier Boden kauft, muss ihn auch bebauen, deshalb die Hütten. Doch tatsächlich spekulieren die meisten auf ein Wachstum der Stadt in die Gegend und somit einen späteren Verkauf des Grundstücks.
„Ich gehe davon aus, dass wir in ein paar Jahren umgeben sind von Hochhäusern. Das sieht auch der Bebauungsplan vor.“ Trotzdem will sie nicht weichen, sieht dann sogar das „Eden East“ als wichtigen Teil der Community: Schulkinder könnten sich dann zu Fuß ansehen, wie eine Farm funktioniert.
Eine Farm inmitten von Hochhäusern? Das wäre dann wieder so herrlich Austin-verrückt.
Vor neun Jahren reiste unser Gründer Thomas Knüwer zum ersten Mal zur SXSW, seitdem ließ er die Konferenz nur einmal aus. „Nach dem ersten Mal dachte ich: geile Konferenz – aber in der Stadt willst Du nicht tot über’m Zaun hängen.“
Seitdem hat sich viel geändert.
2011 schrieb Knüwer in seinem Blog, dass die SXSW die Cebit des 21. Jahrhunderts sei. 2019 ist die Cebit zu Staub zerfallen und die SXSW hat so viel Einfluss wie nie zuvor. Die US-Politik schlägt massiv auf, von der gefeierten Alexandria Ocasio-Cortez bis zu einem halben Dutzend demokratischer PräsidentschaftskandidatInnen. Hier präsentieren die Ex-Ebay Chefin Meg Whitman und Medienmanager Jeffrey Katzenberg mehr zu ihrem Videoportal Quibi und die Instagram-Gründer äußern sich erstmals öffentlich zu ihrem Abschied von Facebook.
Auch werden hier Stars gemacht. Der Aufstieg von Trendforscherin Amy Webb ist unmittelbar mit der SXSW verknüpft. Der nächste Star dürfte der höchst sympathische Rohit Bhargava werden. Mit 15 Minuten Lesung aus seinem jährlich erscheinenden Buch „Nonobvious Trends“ begann er vor Jahren – dieses Jahr füllte er den mit 2500 Plätzen größten Raum und bekam wegen Überfüllung eine Zugabe-Session vor weiteren mehreren Hundert Zuhörern.

Das Mercedes-Haus während der SXSW.
Und schließlich ist die Konferenz zu einem internationalen Treffpunkt geworden – aber eben nicht nur der Digital-Irren. Immer mehr hochrangige Vertreter von Klassik-Konzernen reisen an und mischen sich mit Startup-Vertretern, Beratern, Künstlern und Programmierern. Sogar die deutsche Politik ließ sich erstmals blicken in Gestalt von Flugtaxi-Staatssekretärin Dorothee Bär (CSU) und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Journalismus-Professor Jeff Jarvis sagte im Podcast „This Week in Google“: „Ich habe das Gefühl, dass noch nie so viele Menschen aus meiner Timeline bei der SXSW waren – alle von ihnen Marketingleute oder Deutsche.“
Diese Melange hat aus Austin eine begehrenswerte Stadt gemacht. Dank der SXSW machte sich Austin einen Namen als Konferenzstandort. Die Konferenzen brachten Geld in die Stadt, die Kommune investierte, das zog neue Anwohner an – und neue Tech-Firmen.
Die globale IT von General Motors sitzt seit ein paar Jahren in Austin; Apple kündigte den Bau eines 1 Mrd.$ teuren Campus für 15.000 Mitarbeiter an (derzeit arbeiten schon 6.000 Appleaner hier); Oracle eröffnete vergangenes Jahr einen neuen Campus für 5.000 Mitarbeiter – mit der Kapazität für weitere 5.000; Google schließlich wird die gesamten 35 Stockwerke eines Neubaus übernehmen – auch hier werden 5.000 Leute arbeiten. Schon jetzt aber fehlt es laut „New York Times“ an 48.000 Wohnungen im bezahlbaren Preisrahmen – wobei bezahlbar bedeutet, dass die Monatsmiete unter 2.000$ liegt.

Neben dem Convention Center lag bisher eine Freifläche – nun baut dort Marriott ein neues Hotel.
Auch die Startup-Szene wächst und wächst. Denn die Gründungswilligen unter den 52.000 Studenten der University of Texas gewöhnen sich an das gute Wetter und die angenehme Stimmung in der Stadt. Außerdem liegt die Landwirtschaftsuni Texas A&M mit ihren 70.000 Studenten im Einflussbereich der Stadt: Sie präsentierte während der SXSW zum Beispiel ihr selbst aufgesetztes Telemedizin-Projekt. Noch dazu ist Austin flugtechnisch nicht ganz so weit entfernt von dem Land, in dem amerikanische Tech-Unternehmen gern Programmierer beschäftigen: Mexiko ist für die USA das, was für deutsche IT-Firmen Osteuropa darstellt.
All dies verändert die Stadt schon heute. „Keep Austin weird“ ist das inoffizielle Motto – doch wird ATX immer weniger verrückt außerhalb der SXSW-Tage. Als liberale Oase im konservativen Texas ist Austin schon jetzt ein Anlaufpunkt für Obdachlose, deren Drogenproblem sind in den Gesichtern deutlich abzulesen. Der Verkehr? Der Tag mit Stau. Jeder Tag.
Und auch wenn die Wachstumsschmerzen der Stadt erheblich sind – der SXSW und ihrem Einfluss wird all dies helfen. Spricht man heute mit Konferenzbesuchern aus dem Silicon Valley sagen viele, dass sie wegen ihrer Reise nach Texas komisch angeguckt werden. Denn die SXSW sei ja nicht mehr cool, sondern nur noch groß.

Wenn aber immer mehr Tech-Arbeiter in die Stadt ziehen, werden sie auch zur Konferenz gehen, denn ihr Besucht würde mangels Reisekosten günstiger. Die Folge wäre tatsächlich DIE digitale Konferenz weltweit. Und es ist nicht auszuschließen, dass am Ende dieser Entwicklung, vielleicht in 10 oder mehr Jahren, nicht mehr das Silicon Valley das Herz der westlichen Digitalwelt ist – sondern Austin.